Ein Gespräch mit Charlotte Selver über die Entwicklung ihrer Arbeit
16. Oktober 2000
Stefan Laeng
In mehreren Gesprächen mit Charlotte habe ich versucht, die Frage zu ergründen, wie sich ihre Arbeitsweise im Laufe der Jahre entwickelt hat. Das war gar nicht so einfach. Bald wurde deutlich, dass Charlotte kaum an der Entwicklungsgeschichte ihrer Arbeit interessiert ist. Interessant ist für sie, wie wir an etwas herangehen. So kommt sie immer wieder auf Menschen zu sprechen, die in ihrem Verhalten das verkörperten, was durch die Arbeit mit Gindler zu ihrem zentralen Anliegen wurde: dass das Leben nicht mit Methode zu meistern ist, sondern dass es darum geht, mit Bereitschaft zum Entdecken und Lernen sich unvoreingenommen mit dem auseinanderzusetzen, was im Moment akut ist.
In diesem Sinne ist das Folgende keine Abhandlung über die Entwicklung von Charlottes Arbeitsweise, sondern eine – bruchstückhafte – Erzählung über Menschen, die sie beeindruckt haben. Das bemerkenswerteste an unseren Unterhaltungen war wohl, mit welcher Beharrlichkeit Charlotte immer wieder auf Elsa Gindler zu sprechen kam und andere Einflüsse nur bedingt gelten liess. Gindler war und ist für sie die Nabe, um die sich alles dreht, alles andere ist bestenfalls eine Bestätigung von Gindlers Entdeckungen. Charlotte hat oft nicht direkt auf meine Fragen geantwortet, sondern ist durch sie an Menschen oder Situationen erinnert worden, die diese Qualität der Unmittlebarkeit verkörpern, die für sie so zentral ist.
Stefan Laeng: Wie hat sich, was du von Gindler gelernt hast, zu deinem eigenen Stil entwickelt?
Charlotte Selver: Gindler hat an einem Phänomen gearbeitet und wir haben dann herausgefunden, wie sich das in unserem Leben verwirklichte oder nicht verwirklichte. Das hat sie oft schriftlich verlangt. Aber sie hat nicht etwas unterrichtet. Sie hat keine Stunden gegeben. Sie hat zum Beispiel verboten, dass wir etwas aufschreiben. Wie sich die Arbeit bei jedem entwickelte und was daraus wurde in seinem Leben, das war für sie wichtig. Wir haben darüber gesprochen, wie man sich im Leben verhält zu dem was man tut, zu den Menschen usw.
SL: Gindler hat aber schon auch Versuche angeboten ähnlich wie du?
CS: Versuche ergaben sich aus Erfahrungen im täglichen Leben. Wir haben etwas erzählt und dann ist uns klar geworden, wie wir uns verhielten. Es waren keine statischen Versuche. Doch immer arbeiteten wir mit diesen Fragen: Wie verhalte ich mich? Wie gehe ich an etwas heran? Was ist nötig? Auch die Frage, wie wir Schwierigkeiten überwinden, wenn sich uns etwas entgegenstellt. Wie wir dem begegnen. Ich würde, was sie lehrte, in keiner Weise als Methode bezeichnen, es war immer ganz im Fluss, nicht bestimmte Übungen. Wir haben oftmals wochenlang an einer Frage geknabbert, bis wir ihr wirklich begegnen konnten. Jede Aufgabe, die sich bot, wie man einem Menschen oder einer Aufgabe begegnet, die wurde dann ausprobiert. Und jeder hatte seine eigene Art, an etwas heranzugehen. Das Grosse bei Gindler war, dass sie sich nicht festsetzte. Alles war immer in Bewegung, wurde klarer oder wurde in Frage gestellt.
Gindler hat Fragen gestellt – oder wir haben etwas entdeckt: “Können sie fühlen wie sie durch die Luft gehen?” Oder: “Was fällt ihnen auf, wenn sie gehen oder wenn sie jetzt stehen bleiben? Was wird ihnen bewusst.” Immer ohne etwas zu lehren. Wir mussten das selber herausfinden. Jeder hat dann sein Erlebnis gehabt, oder gesagt, er habe nichts erlebt, oder es war ungewiss, er ist nicht wirlich über die Hürde gegangen, war nicht bereit. Diese Frage der Bereitschaft war sehr wichtig, bereit werden für etwas. Und dann, wenn man bereit wird für etwas, was dann in einem geschieht, was da sich alles verändert, daran haben wir stundenlang gearbeitet. Jeder in seiner Art. Werde ich wirklich bereit oder bringe ich mich nur so dazu? Was ist das, bereit werden? Wie fühlt sich das an? Das typische an Gindler war, dass sie nicht lehrte, sondern dass sie entdecken liess. Dass jeder seine eigenen Entdeckungen machen muss.
SL: Als du Gindler getroffen hast, warst du noch in der Ausbildung zur Bode-Gymnastiklehrerin und hast bald darauf zu unterrichten begonnen. Die beiden Arbeitsweisen haben sich ja wohl nicht gut vertragen. Wie hat sich das auf deine Arbeit ausgewirkt?
CS: Ich habe gefunden, dass Bode Gymnastik ganz unnatürlich war und nicht meiner Natur entsprach, dass das etwas Gelehrtes war und nicht etwas Entdecktes. Und so hat sich meine Arbeitsweise nach und nach völlig verändert. Ich war damals ziemlich erfolgreich mit Bode Gymnastik doch als ich anders zu arbeiten begann, habe ich erst mal die meisten Schüler verloren und musste praktisch von Neuem beginnen.
SL: Hat Bode-Gymnastik irgendwelche Spuren hinterlassen in der Art wie du heute arbeitest? Vielleicht in bestimmten Versuchen, zum Beispiel wenn wir springen oder hüpfen?
CS: Gindler hat ja alles probiert: Wir sind gerannt oder gesprungen, gegangen oder gestanden. Alles was natürlich war – aber nicht als ‘Fach’. All das, was ich gelernt hatte, musste ich aufgeben und ich entdeckte, dass es darauf ankam im Augenblick dem zu begegnen, was gegeben ist.
SL: Hast du eine neue Art des Arbeitens finden müssen um in Amerika zu arbeiten?
CS: Es gab nicht eine bestimmte Art zu arbeiten. Man musste dem, was gerade im Weg war, begegnen. Eine klare Begegnung wird angestrebt und wenn die nicht geschieht, muss man stunden- und tage- und jahrelang dran bleiben, bis es eine wirkliche Begegnung wird.
Ich weiss noch, wie wir bei Gindler immer rennen mussten. Wir haben viel am Starten gearbeitet, wie man beginnt. Bereitschaft – und was dann alles geschieht in einem oder womit man sich etwas verdirbt. Bei Gindler gab es nie, dass man sich festsetzte auf bestimmte Aufgaben. Man arbeitete an etwas, bis man etwas gefunden hatte oder, wenn es fruchtlos war, bis man es aufgab. Ob man dabei etwas erkannte oder nicht erkannte, das war dann die Frage. Es war alles sehr spontan. Das schöne an Gindler war, dass sie immer die richtigen Fragen gestellt hat.
SL: Wie hat deine Begegnung mit Zen und Alan Watts deine Arbeit beeinflusst?
CS: Sie hat sich durch die Begegnung mit Watts nicht verändert. Es war nur eine andere Gelegenheit. Es geht ja in unserer Arbeit darum, auf eine Situation so voll wie möglich zu reagieren. Wir haben viele Jahre zusammen gearbeitet. Alan hat einen Vortrag gehalten und ich habe mit den Leuten an den Themen gearbeitet, die dadurch akut wurden. Er wusste nicht, was ich tun würde. Er hat mir oft geschrieben, worüber er sprechen würde und ich habe mir dann angespürt, wie ich das praktisch ausprobieren könnte. Das Schöne bei Alan und mir war, dass er Vertrauen gehabt hat zu mir und ich interessiert war an dem, was er sagte. So hat sich das in eine schöne Zusammenarbeit entwickelt. Ich habe sehr viel gelernt, wie man spontan auf etwas reagiert, wie man ohne viel nachzudenken etwas begegnet.
SL: Welche anderen Einflüsse gab es denn in deinem Leben. Was war die Rolle von Zen oder von Korzybski?
CS: Ich habe viel gelernt. Es ist viel Verwandtes angeklungen. Aber meine Arbeit ist kein Versuch, sich dem oder jenem anzugleichen. Sie bleibt immer spontan, ist nie eine feststehende Lehre. Durch Zen habe ich viel übers Stillwerden gelernt, über das Nach-innen-horchen und Reagierfähig-werden, dem Unbekannten zu begegnen. Das Wesentliche, was ich gelernt habe, ist, nicht in einer Position zu verharren, sondern immer reagierfähig zu sein. Man sieht das oft bei Kindern, die noch unverdorben sind – und in Zen-Meistern. Suzuki Roshi hat für mich immer wie ein Kind ausgesehen. Er war so offen, so frei und bescheiden. Er hatte keine Rosinen im Kopf. Er war ganz für das da, was im Moment geschah. Da war auch der andere Suzuki, Daisetz, er große Gelehrte. Ich begegnete ihm an einer Konferenz über Zen und Psychoanalyse 1957 in Mexico. Da haben sich all die Teilnehmer vorgestellt mit ihren Titeln, Professor Doktor So-und-So – es nahm kein Ende. Und dann kam dieser kleine, alte Mann, Suzuki, und sagte nur: Ich bin ein Student des Zen.
Bei Korzybski ging es auch wieder um die Frage des Reagierens. Die Erkenntnis, dass wir sozusagen ein sensitives Netzwerk sind, wo alles zusammenhängt und wir immer in unserer Totalität angesprochen sind. Dann ist da auch wieder die Stille, dass wir still werden müssen um aufnahmefähig zu sein. Die Stille hat ja alle Möglichkeiten, sie wendet sich nicht ab. Die Stille hat Reagierfähigkeit in sich, unmittelbare Bereitschaft.
Da war auch eine Begegnung mit Ram Das. Er lebte oberhalb von Esalen. Charles und ich sind dahingegangen und da war ein Mann in einem weissen Gewand, der sass mit geschlossenen Augen da. Und viele stille Gestalten sassen um ihn herum, und vor Ram Das lagen viele Geschenke. Alle hatten ein Geschenk mitgebracht: Rosinen und Mandeln, dieses und jenes. Ab und zu hat er die Augen geöffnet, und da ist eine solch unglaubliche Ruhe von ihnen ausgegangen. Er hat sich dann an eine der Gestalten im Raum gewandt und gefragt: “Was kann ich für dich tun?” Und dann hat sich eine Konversation ergeben. Da erkannte ich plötzlich, dass ich diesem Mann vor Jahren in New York begegnet war, und da war er einer der nervösesten und unruhigsten Geister gewesen, die ich je gesehen hatte. Und als er mich dann angeschaut und gefragt hat, was er für mich tun könnte, sagte ich: “Nichts. Ich brauche nur in ihre Augen zu sehen, das genügt mir.”
SL: Waren da noch andere Dinge oder Menschen, die sehr wichtig waren für dich?
CS: Ich werde nie vergessen, wie ich mit Erich Fromm gearbeitet habe. Ich ging immer in seine Praxis. Es war sehr eng in seinem Büro. Da war sein Pult, und da war eine Feuerstelle mit Marmor davor und sehr wenig Platz. Einmal bat ich ihn, sich hinzulegen. Ich werde nie vergessen, wie tastend er war, wie er mit der Hand ganz leise die Eisendinge für die Feuerstelle weggeschoben und sich ganz ruhig auf die Marmorplatte hingelegt hat. Später sagte ich zu ihm: “Schüler wie dich möchte ich gerne mehr haben.” Er hat sich sehr darüber gefreut. Ich werde das nie vergessen, jeden andern hätte das gestört: “Oh, wie schrecklich, da ist was im Weg!” Nein, Fromm hat die Geräte ganz sachte weggeschoben und hat sich dann auf die kalte Marmorplatte niedergelegt. Es war schon eine schöne Arbeit mit ihm.
SL: Da war auch eine Zeit, in der Charles und du sehr an Carlos Castaneda interessiert wart.
CS: Ja, Castaneda. Wir sind oft in die Berge gegangen mit den Schülern und haben dort gesessen. Dann haben wir Szenen aus seinen Büchern gelesen und haben diese dann ausprobiert. Eine war, dass einer sich hinlegte und schlief und dann aufgeweckt wurde. “Wach auf! Wach auf!” Er wollte aber nicht aufwachen. Dann haben die Leute ihn hochgezogen: “Wach auf!” Doch der ist nur wieder hingefallen. Das haben wir alles gespielt, es war sehr aufregend. Wir wollten alles in Wirklichkeit erleben, nicht nur erzählt bekommen. So langsam sind wir dann aber etwas bescheidener geworden.
Das war eine schöne Zeit der Entdeckungen. Ich könnte nicht sagen wie sich das auf meine Arbeit ausgewirkt hat, doch jede neue Entdeckung beeinflusst doch wie man lebt, was man um sich herum hat und was man benutzt und was man gehen lässt. Jedenfalls haben all diese Entdeckungen sehr viel ausgewirkt, wo ich lebte und wie ich lebte und was geschah. Es war nicht nur Elsa Gindler.