Getragen von Fragen

Dieser Artikel erschien zuerst in Buddhismus Aktuell 3/21

Zen und Sensory Awareness führen die klassischen Formen der Zen-Praxis mit dem offenen und bewegungsreichen Ansatz des Sensory Awareness zusammen. Stefan Laeng und Patrick Ho Kai Damschen bieten seit mehreren Jahren Workshops und regelmäßige Übungsstunden dazu an. Ein Dialog.

Patrick: Die zentrale Frage dieser Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell, „Was trägt?“, erscheint mir wie ein Koan, das ich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann und das weitere Fragen aufwirft, wie: Was trägt bei? Was hält fest? Was trage ich mit mir herum? Es gibt da viele Variationen. Aber am meisten inter- essiert mich: Was ist hier und jetzt? Was trägt mich in diesem Augenblick?

Stefan: Genau, was trägt gerade jetzt, ganz konkret? Aus meiner Arbeit würde ich natürlich erst mal sagen: Der Boden trägt mich. Das ist die physische, die sinnliche Seite. Wir sind körperliche Wesen und grundlegende Erfahrungen sind in unserem Gewebe verankert, von frühster Kindheit an. Wir können aber auch ein buddhistisches Konzept aufgreifen und finden dann zum Beispiel im Satipatthana Sutta, dass die „Grundlagen der Achtsamkeit“ mit dem körperlichen Erleben anfangen. Das führt uns wiederum zurück zu unserer eigenen Erfahrung, und wir können selbst prüfen, was trägt – an der Lehre, aber eben auch ganz konkret im gelebten Alltag.

Patrick: Wenn ich ohne allzu viel Spannung sitze, ausgerichtet zwischen Himmel und Erde, dann erlebe ich ein Gefühl des Getragenseins. Shohaku Okumura sagt in seinen Kommentaren zum Sandokai: „Wir sind die Schnittstelle zwischen Verschie- denheit und Einheit. In diesem Augenblick fällt alles an seinen Platz.“ Wenn ich meine Dharmaposition vollständig einnehme, bin ich in Harmonie mit der Wirklichkeit, einzigartig und doch in Verbindung mit allem anderen. Ich spreche jetzt vom Zazen, der Form des Sitzens, die ich jeden Tag aufs Neue praktiziere und die mich trägt. Doch ich kann natürlich die Frage stellen: Trägt uns eine Form besser als eine andere?

Stefan: Im Sensory Awareness lassen wir die von außen gegebene, „gelehrte“ Form erst mal beiseite und nähern uns von in- nen derjenigen an, die in jedem Moment der Begegnung mit der Welt neu entstehen will. Als Lehrer biete ich Fragen an, die uns in die direkte Erfahrung führen. Das bedeutet nicht, dass wir uns beim Sensory Awareness einfach hinsetzen, wie es gera- de am bequemsten ist. Es geht darum zu entdecken, was den Bedingungen des Moments entspricht. Das verlangt viel Eigenverantwortung. Sonst nistet man sich in seinen Gewohnheiten ein und wird seine Blockaden nicht lösen können. Manchmal stellt sich deshalb dann doch die Frage, ob wir auch vorgegebene Formen brauchen, um uns aus Gewohnheiten zu befreien.

Patrick: Die vorgegebene Form kann mich halten, wie ein Gefäß, in dem ich zum Spüren komme, wie ich mit allem in Beziehung bin. In der Stille des Zazen geht es nicht um die Form an sich, aber um die Beweglichkeit in der Bewegungslosigkeit. Dem muss ich Aufmerksamkeit schenken, sonst halte ich nur fest. In diesem Sinne ist das Gyoji, die regelmäßige Praxis der Wiederholung der Form – also Zazen, kinhin (Gehmeditation), die Niederwerfungen – auch eine Übung im Loslassen. Wenn Zazen aber zur reinen Pose wird, ich also nur Haltung annehme, vertraue ich dem, „was trägt“, vielleicht noch nicht genug?

Fragen sind der Schlüssel

Stefan: Du stellst viele Fragen und für mich liegt darin der Schlüssel. Eigenartigerweise sind es gerade Fragen, die mich tragen. Sie regen mich zum Entdecken an. Antworten sind zwar auch wichtige Ruhepunkte, kön- nen aber zur Erstarrung führen. Was mich an unserer Zusammenarbeit anspricht ist, dass wir in einen Dialog zwischen Vorgegebenem und Selbsterfahrenem eintreten. Ich kann nur wissen, was trägt, wenn ich daran rütteln kann, das heißt, wenn ich es über- prüfen kann. Auf der anderen Seite muss ich aber auch nicht das Rad immer wieder neu erfinden.

In diesem Sinne bin ich sehr dankbar für die, die einen Weg vor mir gegangen sind und mir Hinweise geben können. Wenn du mich aber einfach in eine Form steckst und behauptest, das sei der Weg der Befreiung, dann bin ich schon gefangen. Ich habe das oft erlebt, auch im Buddhismus – obwohl wir doch auch da schon früh aufgefordert werden, eine Insel oder ein Licht für uns selbst zu sein, also auf un- sere eigene Erfahrung zu vertrauen. Allerdings ist dieser Weg unbequem, weil wir sozusagen Halt im Haltlosen finden müssen, in einer Wirklichkeit, die sich andauernd entfaltet und nicht statisch ist.

Patrick: Ich nenne das gerne „mich einsinken lassen in die Unbeständigkeit des Augenblicks“. Hier haben mir Sensory Awareness und unsere Zusammenarbeit noch einmal Türen geöffnet und meine Zen-Praxis tatsächlich verändert. So stellt sich mir heute mehr denn je die Frage: Wie kul- tiviere ich den Anfängergeist? Mir scheint, es gibt bei vielen Menschen den Wunsch schnell eine Art „Egolosigkeit“ zu entwi- ckeln; das Erforschen des Selbst fällt hinten runter. Frei nach Dogen sind aber das Selbst-Erforschen, das Selbst-Vergessen und das Einswerden mit den Dingen etwas Gleichzeitiges und keine Kausalkette.

Stefan: Wenn wir wirklich hinsehen be- ziehungsweise spüren, schmecken, hören, dann wird ziemlich schnell klar, dass wir ein temporäres Gewächs sind – ob Unkraut oder Rose, sei jetzt mal dahingestellt. Wir sind ein Teil und nicht getrennt vom großen Ganzen. Allerdings verstricken wir uns beim Erforschen des Selbst gerne, weil das Ego so verdammt überzeugend ist. Aber loslassen heißt eben nicht wegwerfen. Auch ein sogenanntes Unkraut hat seine Daseinsberechtigung – es entsteht und vergeht im Gewebe des Ganzen, und dessen Erforschung führt damit auch potenziell zum „großen Selbst“.

Es braucht Beziehung

Patrick: Im Sesshin stundenlang sitzen, die Rituale, das gemeinsame samu – die Arbeitsmeditation – und dann wirklich wie ein Herz werden, das trägt mich. Gerade auch während der Corona-Zeit unterstützt mich die Form, die Struktur der Praxis. Die Regelmäßigkeit, unsere Beziehungen innerhalb der Sangha, das Gefühl, Teil von etwas zu sein, Zugehörigkeit, all das trägt uns doch auch. Hier stellt sich mir auch die Frage, inwiefern uns ein Glaubenssystem, eine Religion Halt gibt, weil wir dadurch eine gemeinsame Sprache finden.

Stefan: Ganz bestimmt braucht es Beziehung. Das ganze Leben ist ein Austausch, eine Begegnung; jeder Schritt ist nur möglich, wenn da was ist, worauf ich schreiten kann, das mich trägt. In dem Sinne gibt es eben auch keinen Alleingang. Wir gehen immer in Beziehung – mit dem Boden, mit der Luft, die wir brauchen, um die Energie zum Gehen zu bekommen. Wir sind durch das Essen und Trinken in einem dauernden Austausch mit der Welt. Und wir Menschen nähren uns auch durch den Gedankenaustausch. Wir leben immer in einem Glau- benssystem, wir einigen uns auf ein gemeinsames Verständnis der Wirklichkeit, sonst könnten wir nicht überleben.

Allerdings haben wir auch die Ten- denz, Glaube mit Wirklichkeit zu verwechseln. Der Glaube ist aber nur die Landkarte, und das Land selbst, die Wirklichkeit ist ungemein komplexer und auch veränderlich. Mein erster Sensory Awareness Lehrer, Seymour Carter, hat manchmal gesagt: „Es gibt keine Natur, nur Kultur.“ Das ist wohl etwas zugespitzt formuliert. Es ist aber wichtig, sich daran zu erinnern – gerade für uns weiße Männer, wenn ich das mal so einwerfen darf –, dass wir die Welt immer durch eine kulturelle Brille sehen, und nicht „an sich“. Was mich trägt, kann andere erdrücken.

Patrick: Die Wirklichkeit ist komplexer und sie ist tatsächlich viel weiter als mein eigener kleiner Erfahrungshorizont. Unsere Praxis hilft uns, den Blick zu weiten und zu erkennen, dass es meine eigene Perspekti- ve der Welt gibt und gleichzeitig das große Ganze, in dem alles zusammen wirkt. Im Herz-Sutra ist das die Durchdringung von Form und Leerheit, im Sandokai die Harmonie von Einheit und Verschiedenheit. Und doch ist es wichtig meine Begrenzungen zu erkennen. Grenzen sind ja nicht per se etwas Einschränkendes, sondern auch Berührungspunkte mit dem „Darüberhinaus“.

Bei der Frage „Was trägt?“ kommen wir immer wieder auf das Konkrete, direkt Erfahrbare zurück. Gleichzeitig gibt es die Dimension des Universellen. Hier spre- chen wir im Zen oft in Bildern und bemühen uns, etwas Nichtsagbares zu formulieren. „Die Schnittstelle zweier Dimensionen zu sein“, ist etwas Abstraktes, und doch gibt es diese Erfahrung.

Stefan: Ganz bestimmt. Auch wenn ich immer wieder auf der direkten Erfahrung beharre, ist mir schon klar, dass un- sere Sinne nur einen kleinen, gefilterten Ausschnitt der Welt erfassen können. Von da aus machen wir uns ein Bild der Welt. Das geht nicht anders. Wir brau- chen den Geist, um Unfassbares fassbar zu machen. Ohne die kreative Kraft des Geistes, wüssten wir nicht einmal, dass die Erde eine Kugel ist, die die Sonne umkreist. Das ist sinnlich nicht direkt erfahrbar. So brauchen wir Bilder, um uns in der Welt zu orientieren und unseren Erfahrungshorizont zu erweitern. Sie geben unserem Leben Sinn und Richtung.

Vertrauen heißt loslassen

Patrick: Glaubst du, unsere Sinne sind so etwas wie Dharmatore zur Erfahrung von etwas, was wir Ungetrenntheit oder Leerheit nennen? Das sind wichtige Konzepte im Zen und doch kommen wir oft nicht über eine vage Vorstellung davon hinaus.

Stefan: Absolut. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass jede Sinneserfah- rung uns laut und deutlich darauf hinweist. Wenn wir wirklich dabei sind, dann erfahren wir in jedem Moment, dass wir ein Teil sind, in dauernder Wechselbeziehung. Bewusstsein entsteht in der Begegnung, im Austausch. Wenn du nicht da wärst, wäre ich nicht hier. Ich kann nur ich sein in Bezug auf andere und anderes. Es ist – ich bin – ein Prozess. Aber zu erkennen, dass alles dauernd entsteht und vergeht, ist eben nicht nur angenehm. Wir erfahren dann auch unsere eigene Endlichkeit.

Patrick: Ja, es bedeutet immer wieder loslassen. Dogen Zenji sagt sinngemäß etwas wie: „Wenn du dich ganz hineinwirfst in Buddhas Haus, wenn der Boden rausgefallen ist, aber du nirgends aufschlägst, dann wirst du getragen von Mitgefühl.“ Loslassen ist die Akzeptanz der Veränderlichkeit und ...

Stefan: ... der Tatsache, dass wir am Schluss vielleicht mit mehr Fragen dastehen als Antworten? Ich habe seit meinen Teenagerjahren so viel gelesen und studiert und „da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“. Ein entscheidender Wendepunkt auf meiner Suche war ein kleines Zitat aus einem Büchlein von Alan Watts: „Vertrauen heißt loslassen.“ Das hat mich vor über vierzig Jahren zu entscheiden- den Veränderungen in meinem Leben in- spiriert. In einer Weise hat es mich durchs Leben getragen, wenn ich auch das Suchen nie wirklich aufgegeben habe, also nicht wirklich vertraut habe.

Heute, an einem guten Tag, scheint mir das alles viel einfacher. Das Leben ist mir ein Rätsel und darf es auch bleiben. Es ist in einer Weise das Nichtwissen, das mich trägt. So ist das Leben jeden Tag eine Entdeckung und ein Geschenk. Nicht, dass alle Geschenke willkommen sind. Aber ich öffne sie, oder mich für sie, so gut es geht. Und stelle immer wieder fest: Es lohnt sich. Mir ist es aber wichtig, noch mal deine

Worte von Dogen aufzugreifen: „getragen von Mitgefühl“. Es ist meine Erfahrung, dass Mitgefühl spontan entsteht, wenn wir wirklich präsent sind. Wie kommt es aber vom Mitgefühl zum Handeln? Gibt dir hier ein Weg wie Zen Halt und Richtung?

Patrick: Ja, ich finde in den buddhisti- schen Unterweisungen vieles, was mir Orientierung gibt. Zum Beispiel sind die Bodhisattva-Gelübde eine starke Motivation und natürlich die Gebote oder Lebensregeln, deren Quelle das Mitgefühl ist. Nicht als starre Richtlinien oder enge Moral, sondern als Wegweiser für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln. Letztlich sind es immer Weis- heit und Mitgefühl, wie zwei Beine, die uns auf dem Weg tragen. 3

Stefan Laeng ist Sensory Awareness Lehrer und geschäftsführender Direktor der Sensory Awareness Foundation. Er lebt in Peterborough, New Hampshire, USA, und bietet regelmäßig auch in Europa Workshops an.

Patrick Ho Kai Damschen ist Zen-Mönch in der Tradition des Soto-Zen. 2012 wurde er von Roland Yuno Rech zum Zen-Mönch ordiniert. Er leitet das San Bo Dojo in Bonn sowie das Zen Haus Blankenbach.